Sexuelle Gewalt - seelische Gesundheit

Sexuelle Gewalt - seelische Gesundheit

1. Eine stabile Basis

Eine der Schrecklichkeiten sexueller Übergriffe liegt darin, dass sie an einer empfindlichen Stelle angreifen: beim Körperkontakt.

Berührung ordnen wir Nähe, Vertrauen, Identität und Körpergrenze zu. Werden sie plötzlich oder wiederholt erschüttert, gehen Halt und Orientierung verloren.

Berührung und Bewegung sind die Basis unserer Selbsterfahrung1, der Tastsinn ist allen anderen Sinnen vorgelagert. Seine außerordentliche Bedeutung lässt sich schon an der Entwicklung des Embryos im Mutterleib ablesen.

Wir können ohne Augen leben, aber nicht ohne Hautkontakt. Über Berührungen, insbesondere mit den Händen, können wir viel differenzierter wahrnehmen als durch das Sehen. Und diese besondere Stellung des Haptischen setzt sich im gesamten späteren Leben fort.

So kommt es, dass dem Tastsinn eine besondere Bedeutung zukommt, wenn jemand an den seelischen Folgen sexueller Gewalt leidet. Die Eintrittswunde des persönlichkeitsverändernden Einschnitts wird nunmehr zu einem sinnvollen Ansatzpunkt für gezielte Heilungsprozesse.

2. Sinn und Sinnlichkeit verbinden

Menschliches Denken wird gern als ein von Sinnlichkeit unabhängiger Prozess betrachtet. Aber unsere Sprache verweist auf die Ursprünge des Erkennens: Das Begreifen und das Erfassen ist auf die Erfahrung des Greifens und Fassens angewiesen. Und dieser Einsicht wenden sich nun auch die Wissenschaften verstärkt zu.

Aus der Forschung wissen wir: angemessene körperliche, geistige und soziale Entwicklung ist direkt an Berührungsimpulse und an die Kontaktaufnahme in Form von Ansprache und Blickkontakt gekoppelt.

Deshalb ist die Tendenz zur Entkörperlichung nach einem sexuellen Übergriff tatsächlich ein Desaster. Der Bruch führt nicht selten zu Weltflucht, Verweigerung von Entwicklung, zur Ablehnung von Wachstum und Teilhabe am sozialen Leben. Der innere Zusammenhang kann teilweise oder gänzlich verloren gehen.

Berührung hat den Rang eines Lebensmittels. In Kombination mit Therapie und Beratung kann sie einen erlittenen Selbstverlust von Grund auf ausgegleichen.

Wenn wir den Tastsinn als wichtigen Sensor anerkennen und für die Bewältigung von Gewalterfahrungen nutzen, haben wir den Dreh- und Angelpunkt für seelische Gesundheit nach sexuellen Übergriffen, für gelingende und lebendige Beziehungsperspektiven gefunden.

Die positiven Erfahrungen, die in einer haptisch orientierten Therapie unter die Haut gehen, hinterlassen Spuren im Gehirn, die den negativen in nichts nachstehen, und die sie sogar überschreiben können.

Körperorientierte Therapien sind nicht in erster Linie auf Sprache angewiesen. Sie führen direkt und unmittelbar zu Halt und Orientierung, Ruhe und Geborgenheit. Einordnen und Verstehen geschehen verlässlich nebenbei.

Unter den körperorientierten Methoden hat sich “Arbeit am Tonfeld” bewährt, um konkrete, greifbare Hilfe in schwierigen Situationen zu leisten. Aus den Entwicklungsprozessen dieser Methode lassen sich Aussagen ableiten, die für das Bewältigen von lebensbedrohlichen Ereignissen hilfreich sind.

Der Ton bietet hier in einer repräsentativen Lebensituation alles, was notwendig ist: er gibt Halt, er steht in ausreichendem Maß zur Verfügung und er vermittelt Beziehung, Empfindungen, Verhaltensmuster, Gefühle und Einsichten.

Die Bewältigung verläuft am Tonfeld in Handlungsdialogen, die anhand zyklisch wiederholter Dreierschritte Erlebnis-Ausdruck-Verstehen zu Ausgleich und Orientierung führen.2

Die drei Phasen der Traumatherapie: Stabilisierung, Exploration und Integration finden sich wieder. Bewältigen = Standhalten (Stabilisierung) + Erfassen (Exploration) + Einordnen (Integration)

Zuerst ist es wichtig, dem Schock standzuhalten und innerlich auf die Beine zu kommen. Es geht also darum, sich zu stärken und Halt zu finden. Denn Vergewaltigungen oder ähnliche traumatische Erlebnisse erschüttern bis aufs Äußerste. Bevor das Durcheinander betrachtet werden kann, braucht die Seele zunächst Sicherheit. Die Grundlage für einen sicheren Stand wird als Stabilisierung angelegt.

Ist Vertrauen gewachsen, beginnt ein vorsichtiges Erkunden: auf Probleme Zugehen, Sich-Erinnern und Aussprechen. Wenn dies mit etwas Fassbarem in den Händen geschieht, sind die inneren Bilder und Erschütterungen leichter zu ertragen. Das Material Ton ist nicht nur fest und griffig, sondern auch wandelbar: in der therapeutischen Situation zum Guten.

So wird das Setting zu einem symbolischen Schauplatz dessen, was sich auf der inneren Bühne des Lebens abspielt. Hier findet ein Drama statt, ein innerer Konflikt und seine Lösung. Nach und nach kann das, was geschehen ist, in die persönliche Gesamtheit der eigenen Erfahrungen eingeordnet werden. Das Unfassbare verliert an Schrecken. Ohnmacht und Hilflosigkeit nehmen ab. Demgegenüber gewinnt der innere Zusammenhang. Eine neue seelische Ordnung kündigt sich an und bekommt zunehmend Bedeutung. Unerledigte Erfahrungen integrieren sich mit einem Abstand und einer Reife, die man vorher nicht für möglich gehalten hätte.

Die neue Möglichkeit erwächst geduldig aus den alten Bedingungen – als lebendige, tragfähige Perspektive der inneren Freiheit zu sich selbst.

 

Literatur:

Brummack, Andrea: Die ästhetische Dimension in der Arbeit am Tonfeld. Eine Methode haptischer Gestaltbildung im kulturellen Zusammenhang, 2011

Hüther, Gerald: Es ist nie zu spät. in: Tschachler-Nagy, G. u. Fleck, A.: Im Greifen sich begreifen. Die Arbeit am Tonfeld nach Heinz Deuser, 2007

Deuser, Heinz (Hrsg.): Bewegung wird Gestalt, 2004

Levine, Peter A., Sprache ohne Worte. Wie unser Körper Trauma verarbeitet, 2010

Lübbers, Annette: Zauber der Berührung. Interview mit Dr. Martin Grundwald in: Natur und Heilen, Monatszeitschrift für gesundes Leben. Heft 11/2013

 

1Abschnitt 1. und 2. in Anlehnung an Dr. Martin Grunwald, aus einem Interview siehe Literaturverzeichnis; Natur und Heilen, 2013

2Nach Wilhelm Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaft, in: Brummack, Andrea: Die ästhetische Dimension in der Arbeit am Tonfeld. Eine Methode haptischer Gestaltbildung im kulturellen Zusammenhang.

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http://www.therapeutenfinder.com/therapeuten/.html

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